2.11.11

Kanada und USA "die Letzte"

Mit gepacktem Rucksack Rucksack stand ich an der Straße. Mein Bekannter John fuhr mich zur Tankstelle an der Kreuzung Klomdike-Dempster-Highway. Dort stand ich mich eine Ewigkeit lang die Beine in den Bauch und begann schließlich wie ein trotziges Kind den Highway lang zu laufen.
“Dann lauf ich halt die 60km wenn mich von euch Blödmännern keiner aulesen will.”, sagte ich zu mir.
Das war natürlich albern, besonders weil ich die Entfernung yum Stewart River falsch in Erinnerung hatte. Am Ende waren es nämlich 160km. Doch ein nettes Päarchen hatte Gnade und sie fuhren mich direkt zum Fluss.

Sowie ich das McQuesten Flugfeld verlassen habe und in den Wald eindrang, wurde mir klar, worauf ich mich eingelassen habe. Schon letztes Jahr gab es an unserem Platz, wo wir das Floss gebaut haben, recht viele Mücken. Doch das war letztes Jahr, wie mir alle versicherten: ein ausgesprochen gutes Mückenjahr. Diese Mal sah es anders aus: ein ausgesprochen schlechtes Mückenjahr. All die Erlebnisse von zuvor beim Pilze sammeln kamen mir wie ein Witz vor. Der alte Bauplatz liegt direkt neben einem Sumpf, an dem der Fortsweg vorbeiführt, der sich parallel durch den Wald schlängelt. Die einzige Möglichkeit dort lebend vorbei zu kommen, war, mich in meinen dicken Kaputzenpulli zu hüllen, meine lange Hose anzuziehen und mit all meinem Kram so schnell wie ich konnte zu rennen. An der “richtigen” Stelle angekommen, rupfte ich sofort mein Zelt aus dem Rucksack, baute das Innenzelt auf und setzte mich Schwei überströmt hinein, um der Hölle zu entkommen und meine Situation zu überdenken.
Eines war klar, genau an diesem Ort, der letztes Jahr den optimalen Bauplatz darstellte (ein riesiger Haufen mit Stämmen, seicht abfallendes Ufer und eine kleine Bucht), hätte ich niemals ein Floß zusammen zimmern können, zumindest nicht ohne vorher an Blutarmut und Psychose zu sterben. Es musste einen besseren Paltz geben oder ich wäre zurück nach Dawson getrampt und hätte den Plan aufgegeben. Nach ein paar kleinen Vorbereitungen (T-Shirt in die Hose gesteckt, Kaputze über den Kopf und bis auf ein kleines Guckloch zugezogen und die Hände in die Ärmel versenkt und einen Knoten ins Ende gemacht) öffnete ich das Zelt und rannte in die Wolke aus Mücken.
Nach der dritten Wegbiegung stellte ich im Sprint fest, dass nicht eine einzige Mücke zu sehen war.
“Verrückt”, dachte ich und verlangsamte mein Tempo auf Gehgeschwindigkeit. Und wie ein Blitzschlag kamen aus allen Ecken des Waldes die Geschwarder mit dem allmächtigen Summen, das einem den Angstschweis auf die Knochen treibt.
Anscheinend gab es eine kritische Fortbewegungsgeschwindigkeit, ab der die Mücken nicht mehr hinterher kamen die CO2- und Wärmefahne “aus zu schnüfflen”.

Einen Kilometer weiter Fluss abwärts schimmerte eine kleine Kiesinsel durch die licht stehenden Bäume, an deren Spitze wieder ein massiver Stapel aus Baumstämmen ruhte. Ohne zu überlegen sprang ich von meinen Verfolgern gejagd die Böschung runter, preschte durch die Wand aus Büschen, riss mir die Kleidung vom Leib und hüpfte ins Wasser.
Die Insel wurde vom “Festland” nur von einem ca fünfzehn Meter breiten Kanal getrennt, der sich als nur Brust tief herausstellte. Mit einem kräftigen Atemzug versenkte ich mich unter Wasser und tauchte mehr oder weniger die Strecke bis zur anderen Seite, um die “Schnüffelspur” der Mücken abzureißen.
Es hat geklappt. Mir ist so gut wie keine Mücke gefolgt und die Kiesinsel sah perfekt aus. Es gab mehr als genug Stämme, die sich zum Flossbau eigneten und keine Bäume, die nach meiner Erfahrung nötig sind, um Mücken zu beherbergen.
Zwei Stunden später war alles so weit vorbereitet. Das Zelt stand, ich hatte in einem zusammen gefallenen Blockhaus ein paar Bretter für Ruder gefunden und ein kleiner Snack hat meinen Körper und meine Spirits wieder ins Lot gerichtet. Die Arbeit konnte beginnen.

Schon am nächsten Tag war das Floß so ziemlich abfahrbereit. Mit meinem Fuchsschwanz sägte ich mir vier dicke Stämme auf gleiche Länge ab, nagelte sie mit zwei Querstreben zusammen, baute links und rechts jeweils einenlativ bequeme Aufenthaltsplattform über die Stämme. Nachdem ich kleine Konstruktionsfehler in meinem Rudersystem beseitigt habe (ich musste die Ruder zwei Mal bauen, um sie funktionstüchtig zu bekommen), ging die Fahrt am dritten Tag los.
Das ganze Rumgebastel dauerte am Ende viel kürzer als erwartet, was sehr zu meiner Entspannung beitrug, da ich so mehr Zeit auf dem Fluss und in Maysimay haben konnte. Auch musste ich mir keine Gedanken machen, dass Joe und Dana ein Rettungsteam schicken würden, worum ich sie gebeten habe, sollte ich nach neun Tagen nicht zurück gewesen sein.

Der Start verlief dieses Jahr ohne Reibung, im wahrsten Sinne des Wortes. Da es mehr Regen gab als im letzten Sommer, war der Wasserspiegel deutlich höher und somit die Gefahr auf einer der vielen Sand/Kies-Bänke aufzulaufen stark gemindert. Außerdem lag das Floß bei weitem nicht so tief im Wasser, als das letzte. Mit einem Lächeln und aufflammenden Erinnerungen an den fast zwei stündigen Kampf von Francis und mir das fest gesetzte Floß wieder ins tiefe Wasser zu bekommen, trieb ich nach der ersten Kurve an der verhängnisvollen Flachstelle vorbei.
Mein Rudersystem funktionierte prachtvoll. Mit ein paar kräftigen Schlägen konnte ich problemlos jedem Hindernis ausweichen, und mir es dann wieder auf meiner Matratze gemütlich machen und in Mückenloser Freude die Landschaft an mir vorbei ziehen sehen.
Es wurde Abend und ich fing an meinen Kartoffeleintopf vorzubereiten. Es hat sich zwar noch keine baumlose Insel als Nachtlager angeboten, doch konnte ich die Zeit auf dem Floß nutzen schon mal Gemüse zu schnippeln. Ich hatte ja sowieso nichts zu tun. Ich war gerade mit den Zwiebeln fertig, als der perfekte Campplatz auftauchte. Hektik brach aus. Ich schmiss die Zwiebelstücke in den Topf, das Messer mit dem Griff nach unten in den Eimer und fing an zu rudern. Um besseren Grip zu haben, wollte ich meine Handschuhe anziehen. In Übereile griff ich in den Eimer, wo die Handschuhe waren, doch riss meine Hand auf der Stelle wieder raus, als ein widerlicher Schmerz durch meine Hand fuhr. Sofort sah ich die spitze, gezahnte Messerschneide und eine klaffende Wunde zwischen kleinem Finger und Ringfinger an der linken Hand. Meine Schläfen pochten vom Adrenalin und mir schossen wilde Gedanken durch den Kopf: “Du wirst eine Wundinfektion bekommen, Felix! Du musst dich selbst nähen, Felix!” So schlimm war es am Ende wahrscheinlich gar nicht, es sah aber ziemlich gruselig aus und ich habe eine kleine Narbe davon getragen, die mich immer an den Trip erinnern wird. Mein Erste-Hilfe-Täschchen habe ich dämlicherweise vergessen. Doch Klopapier mit Klebeband umwickelt hats für den Abend erst mal getan und meinen Eintopf konnte ich trotz der Aufregung doch noch genießen.

Als ich am nächsten Tag wieder auf dem Fluss war und schon ein paar Stunden hinter mir hatte, sah ich plötzlich in einem engen Seitenarm des Stewart River eine kleine Holzhütte durch die Bäume hindurch schimmern. Sie schrie förmlich nach mir. Mit ein paar kräftigen Ruderschlägen war ich am Ufer, zwar einige hundert Meter weiter Flussabwärts, doch es sollte kein Problem darstellen durch den an dieser verbrannten Wald zurück zu laufen. Am Ende wars dann weiter als erwartet und vor allen Dingen mückiger als als ich dachte, doch schließlich stand vor dem Blockhaus. Es war kein Schloss an der Tür, nur ein einfacher Riegel. Kein Boot lag im Wasser und es sah so aus, als ob niemand in langer Zeit dort gewesen ist. Ich öffnete die Tür und ging hinein. Zuerst war alles schwarz, meine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Doch dann bekam ich eine Idee, wo ich war. Das erste, was mir auffiel, war die riesige Fahne an der mir gegenüberliegenden Wand mit einem Indianer drauf, der eine Friedenspfeife raucht. Weitere Indianische und Natur bezogene Kunst trat in Augenschein und sofort erfüllte mich das Haus mit absoluter Ehrfurcht. Ich bin in der Jagdhütte eines Indianers gelandet und irgendwas daran war sehr besonders. Ich blieb eine Weile auf der Türschwelle stehen und starrte einfach nur den Indianer auf der Fahne an und Fantasien von einem wilden und freien Leben getränkt mit Spiritualität in kanadischer, voreuropäischer Unendlichkeit bauschte sich in mir auf.
Ich tippelte zur Wand, wo ein großer Verbandskasten hing und suchte nach einem Pflaster, um den Schnitt an meiner Hand etwas professioneller zu behandeln. Dann durchstöberte ich noch etwas den Rest der Hütte, um meine Neugierigkeit zu stillen, stellte schließlich alles wieder zurück und ging wieder zur Tür. Bevor ich hinaus ging, drehte ich mich wie aus Reflex noch mal um und verbeugete mich leicht und bedankte mich für die Hilfe bei … irgendeinem Indianer. Ich verschloss die Tür und machte mich auf den Rückweg und erst da merkte ich, was ich gerade getan habe. Ich habe mich fast religiös verhalten, mich bei einem nicht anwesendem Menschen bedankt und fand das ganz normal. Eine sehr ungewohnte und komische Sache.

Nach vielen weiteren Stunden auf dem Fluss verlor ich langsam die Hoffung noch am selben Tag nach Maysimay zu kommen. Es fing bereits an zu dämmern, als ich an einer perfekten Kiesinsel vorbei trieb. Kurzer Hand legte ich an und schlug mein Lager auf. Beim Holz sammeln fiel mir auf einmal die kleine Gewitterwolke auf, die Fluss aufwärts auf mich zutrieb. Ich stand auf einem Stapel, mit Ästen in den Armen, als das erste Lüftchen wehte. Dieses wurde stärker und stärker und zehn Sekunden später sah ich, wie mein Zelt aus dem Boden gerissen wurde und über den flachen Kiesboden rollte. Natürlich war ich wie im Affenzahn zur Stelle und rette mein Heim, bevor es am anderen Ende der Insel in oder über den Fluss davon geweht wurde.

Am Ende kam dann alles anders. Am Ende blieb ich auf der Kiesinsel für zweieinhalb Tage, wo ich meine Vision bekam, nach der ich suchte. Meine Sichtweise auf die vorherigen Wochen änderte sich radikal. Alles kam in einem neuen Licht zusammen und ich hatte das Gefühl wieder im Flow zu sein. All die Dinge, die nicht funktionierten, Erich, der nicht auffindbar war in Prince George, das ganze Rumgezedere mit dem Auto, Dinge, bei denen ich wie irre in eine Richtung zu schwimmen versuchte und wild rumstrampelte und ich trotzdem nicht vorwärts kam und alles gegen mich zu sein schien. Das alles wurde mir klar. Mir war es im Prinzip schon vorher klar, doch wusste ich nicht, was ich dagegen tun konnte. Ich sage mal, dass mir bewusst wurde, dass ich immer die Zeichen nicht gesehen habe und dann oft das “Falsche” unternahm.
Plötzlich sah ich die Zeichen wieder ganz klar und war nun wieder drin im Flow. Dass das alles nicht mit äußerlichen Umständen zusammen hing, sondern mit meiner persönlichen Einstellung zu Ereignissen, nahm der Großartigkeit der Erkenntnis nichts weg. Ob ich nun wirklich den Zeichen des Schicksals folgte, die mich auf meinen guten Weg zurück brachten oder ich mit meiner neuen Sichtweise den Weg als den meinigen erkannte, den ich bereits beschritt und ihn als gut akzeptierte, war und ist mir egal. Was ich sagen will, ist dass das Glas auf einmal immer halb voll war und halb leer, wie man so schön sagt. Die Welt war ja immer noch die selbe, trotzdem strahlte sie schlagartig viel prächtiger als einen Tag zuvor.

Als ich mich durch mein spirituelles Erlebnis mit neuen Lebensgeistern und nochmals verbessertem Floß wieder auf den Fluss begab, merkte ich nach 30 Minuten Fahrt, dass die Kiesinsel nur eine Flussbiegung vor Maysimay lag. Ich war keineswegs enttäuscht, da ich auch ohne Maysimay fand, was ich suchte. Trotzdem legte ich an, um Hallo zu sagen, zu einem der großartigsten Orte, die ich kenne.
Die große Lust auf Besuchzeit hat sich aber schnell wieder gelegt, als die Geschwarder von Mücken auf mich zurasten. Ich konnte gerademal schnell zur Scheune rennen, unseren Platz begutachten (an dem noch immer die selbst geschnitzten Schachfiguren von letztem Jahr rumlagen) und musste sofort wieder verschwinden, da eben auch dort die Mücken dieses Jahr unerträglich waren.

Als ich wieder in Dawson ankam, waren die Mädels heilfroh mich zu sehen. Meine Bitte den Rettungsdienst zu alarmieren, sollte ich nicht nach 9 Tagen wieder da sein, hat ihnen dann doch ein wenig Sorge bereitet. Sie mussten immer daran denken, dass ich vielleicht zurück gekommen wäre.

Jessy und Maggy fragten mich, ob ich mit im Tombstone Nationalpark wandern gehen wolle. Ich hatte zwar nicht die besten Erinnerungen an diesen Ort, an dem ich letztes Jahr in dreitägigem Regen in sobald wir die mannshohen Büsche durchquert hatten, kam die Alm artige Berglandschaft zum Vorschein und das Laufen wurde einfach. Den ersten Abend schliefen wir noch im Tal, da die Felder aus Büschen mit Sumpf durchzogen uns etwas aufgehalten haben.
Das Frühstück ließ ich ausfallen, da ich immer noch viel zunvoll von den Nudeln des Vortags war. Kurz nach Mittag standen wir auf dem ersten kleinen Gipfel und legten unser Gepäck auf einer kleinen plataeuartigen Stufe des Berges ab, wo wir später unser Camp aufbauen wollten. Mit einer mittlerweile halben Dose Bohnen im Bauch gings dann zum benachbarten höheren Gipfel, von dem wir uns einen prächtigen Blick auf das Tombstone-Massiv erhofften. Das bekamen wir auch, doch wollten noch näher heran und brachen zum nächsten Berg auf. So arbeiteten wir uns den Bergkamm entlang. Immer näher ans Massiv heran. Plötzlich blitzte es ein paar hundert Meter vor uns auf. Irgend etwas reflektierte das Sonnenlicht. Wir wunderten uns, was das hätte sein können. Die Gegend wirkte, als ob niemand in den letzten hundert Jahren dort oben gewesen wäre und so erschwien uns Müll oder Glas als irgendwie unwahrscheinlich. Als war die Stelle erreichten, war kein Müll da, nur ein natürliches Geröllfeld. Doch drei der Steine hatten eine total glatt polierte Oberfläche. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen, zumindest nicht auf natürliche Art und Weise. Völlig beeindruckt rätselten wir, wie die Pollierung zustande gekommen sein könnte. Gletscherabschliff habe ich hunderte Male in meinem Leben gesehen. Dafür waren die Steine viel zu glatt. Die Oberfläche sah aus wie Glas, so gut reflektierend, dass man sich darin spiegeln konnte. Eine andere Idee war Blitzeinschlag, so wie bei Sand, der dann schmilzt und verglast. Das schien aber auch nicht das richtige zu sein. Komischerweise war das allererste, was mir in den Kopf kam eine Geschichte von den Atombombenabwürfen im zweiten Weltkrieg, worin berichtet wurde, wie dem Explosionszentrum nahe gelegene Mauern durch die Hitze verglasten. Doch auch das war natürlich äußerst abwägig und so schlug ich ein Stück ab, um später einen Geologen aufzusuchen, der vielleicht eine Erklärung hatte.

Nach dem dritten Gipfel waren Jessy und ich so heiß auf einen noch grandioseren Blick aufs Tombstone-Massiv, dass wir halsüberstürzt dann auch noch auf den nächsten aber wirklich viel höheren Berg wollten. Maggy hatte keine Lust mehr und kehrte um. Leider kamen wir nicht bis ganz nach oben. Es wurde immer unwegsamer, teils schon mit anspruchsvoller Kletterei und der Tag näherte sich dem Abend und da stellten zudem noch fest, dass wir beide den ganzen Tag über fast nichts gegessen hatten und plötzlich ziemlich schwach auf den Beinen waren. Da ich mehr Erfahrung im Bergsteigen habe und mich deshalb verantwortlich fühlte, beschloss ich den Heimweg anzutreten und Jessy willigte vollkommen ein. Nach den ersten paar Metern realisierten wir, wie fertig wie wirklich waren. Unsere Beine zitterten und die Knie gaben immer mal nach. Doch wir mussten noch komplett ins Tal hinunter, den nächsten Berg wieder hoch und den Kamm über weitere drei Gipfel auf und absteigen und einige Kilometer dabei überwinden. Da wurde uns bewusst, wie fahrlässig wir auf dem Hinweg einfach immer weiter gegangen sind, ohne Essen, nur von der suchtvollen Ekstase des nächsten Blickes gezogen. Schon nach dem Abstieg ins erste Tal waren wir dem Zusammenbruch nah. An einer Quelle konnten wir unseren Durst stillen, doch das nütze nicht wirklich, da einfach gar keine Energiereserven mehr im Körper waren. Völlig schwach, übermüdet und geistig benebelt krochen wir den nächsten Berg wieder hoch. Ich spürte, wie meine Schlefen anfingen zu pochen und wie ich in einen merkwürdigen Zustand von “mir ist alles egal” fiel, begleitet von nicht aufhörenden Lachanfällen. Oben auf dem Kamm angekommen, drehte ich mich um und sah Jessy nicht. Ich bin die ganze Zeit vorangegangen, doch dachte, dass er immer hinter gelaufen ist.
Ich rief nach ihm:”Jessyyy. Jessy, wo bist du?”
Ich bekam aber keine Antwort. Ich ging zurück und schaute über die letzten kuppe hinunter. Da lag er, auf der Wiese mit seinem Kopf auf dem Rucksack.
Ich rief:”Jessy, was machst denn da?”
“Ich kann nicht mehr. Ich muss jetzt schlafen!”
“Nein, du kannst jetzt nicht schlafen. Das ist gefährlich. Wenn du jetzt einschläfst, kann es passieren, dass du nicht mehr aufwachst. Wir müssen weiter gehen.”
Da rief er etwas wütender:”Ich kann aber nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr weitergehen. Ich muss jetzt für 20 min hier liegen und ausruhen.”
“Ok, ich geh jetzt bis zum nächsten Gipfel hoch und wenn ich mich dann umdrehe und dich nicht auf dem Kamm sehe, dann laufe ich so schnell wie möglich zum Camp und komme mit Essen zurück.”
Ich drehte mich um und sah ihn nicht. Doch nach ein paar lauten Rufen erschien er endlich um die Ecke wie ein wankendes Gespenst. Als ich mich dem Plateau unseres Nachtlagers näherte rief ich nach Maggy. “Maggy, Maggy bring mir Zucker.”
Sie hat inzwischen schon ihr Zelt aufgebaut, welches wir als winzigen Punkt beim Rückweg schon gesehen haben. Sie erschien und warf mir die Zuckerdose zu. Ich ließ mich einfach auf das Gras fallen und schaufelte mir Löffelweise Zucker in den Mund. Das war göttlich und unglaublich. Ich merkte sofort, wie die Kraft zurück kehrte. Als nächstes verschwand innerhalb weniger Minuten eine Dose Bohnen in meinem Schlund. Jessy war mittlerweile auch kurz vorm Camp. Ich ging ihm entgegen und reichte ihm den Zucker. Auch er brach zusammen und kippte sich den Zucker rein.
Eine halbe Stunde später, nach einem massigen Topf Nudeln, war die Welt wieder in Ordnung. Wir genossen den unglaublichen Blick hinunter ins Tal, zum Dempster Highway, der sich als feine Linie zwischen den Bergen hindurch schlängelt, auf die Berge, die Tundra, die Wolken und die absolute unbegreifliche einsame Weite und Unberühertheit.

In Vancouver wurde ich von Erich und seinem Bruder am Flughafen abgeholt. Wir blieben drei Tage bei Chris und fuhren dann alle zusammen in einer Gruppe von zehn Leuten zu Bass Coast, einem Electro-Festival bei Squamish. Das Festival war der Hammer, sehr liebevoll hergerichtet mit unzähligen Kunstprojekten und Aktionen. An einem Fluss zwischen Bergen gelegen wurde drei Tage lang wild gefeiert.

Zurück in Vancouver suchte ich die geologische Abteilung der Universität von British Columbia auf, um mir von einem Geologen sagen zu lassen, was ich eigentlich im Yukon gefunden habe. Ich legte der “Steine-Frau” des Mineralienmuseums den einseitig polierten Brocken auf den Tisch und wartete auf eine Erklärung.
“Das ist aber bizarr. So was habe ich noch nie gesehen.”, war leider ihr Fazit. Wir sprachen kurz unsere Theorien durch. Zum Gletscherschliff hatte sie die gleichen Gedanken wie ich, also Nein. Beim Blitzeinschlag zerspringt oder explodiert Gestein immer (im Gegensatz zu Quartzsand and Strand) und von Atombombentests im Yukon Territory wusste auch sie nichts. Mir kam dann noch als einzig zufriedenstellende Idee in den Kopf, dass vielleicht Indianerstämme irdenwelche Skulpturen auf dem Berkamm geschaffen haben, die mittlerweile wieder zerfallen sind. Oder dass sie polierte Steine mit der Reflektion von Sonnenlicht als Signalspiegel verwendeten.
Ohne Antwort verließ ich wieder die Uni und ließ der guten Frau den Stein da, damit sie sich daran den Kopf zerbrechen konnte.

Über Couchsurfing schrieb mich Susi die Holländerin an, die jemanden zum Reisen für eine Woche suchte. In Vancouver gabelte sie noch Laura, eine deutsche Reisende auf und zusammen fuhren wir auf Vancouver Island, um das Baumhaus zu suchen, von dem mir Erich letztes Jahr schon erzählt. Es rankten sich Legenden um dieses Baumhaus, dass von einem Tramper in zwei riesige Zedern hineingebaut wurde und sich an der Westküste von Vancouver Island im Regenwald versteckt.

Als wir zwei Tage später den Wild Pacific Trail kurz vor Ucluelet reinliefen und wie von Erich gesagt den ersten kleinen Pfad durch den Dschungel nach rechts nahmen, kamen wir zwar wie versprochen zum Ocean, aber fanden das Baumhaus nicht. So bauten wir unser Camp unter den ersten Bäumen auf, um am nächsten Tag weiter nach dem Baumhaus zu suchen. Och ich fand es dann schon noch am selben Abend. In der nächsten Bucht öffnete sich ein schwarzes Loch in der grünen Dschungelwand, durch das ich wieder auf einen Pfad kam. Dann entdeckte ich die erste Plattform in einem Baum, auf der ein Zelt aufgebaut war, allerdings ohne Bewohner. Und ein Stück weiter sah man die Spuren menschlichen Werkelns auf dem Waldboden. Als ich meinen Kopf in den Nacken legte, sah ich es. Das Baumhaus trohnte 20m weit oben zwischen den beiden Zedern und davor war ein ca. 10 mal 8 Meter großes Fischernetz zwischen den umliegenden Bäumen wie als überdimensionale Hängematte gespannt. Völlig überwältigt und aufgeregt machte ich mich ans Klettern. Zuerst ging es ca. 7m eine ziemlich gruselige Leiter hoch, von der aus man auf einer Miniplattform landete. Von dieser führte eine ca 7m lange Holzbrücke zu einer der Zedern, in deren Krone das Baumhaus anlehnte. Die Brücke sah alles andere als einladend aus, doch durch ziemlich gute ingenieurstechnische Konstruktion war sie am Ende stabiler als erwartet. Am Stamm der Zeder angelangt, musste man von dort aus den Baumstamm an den Ästen hochklettern, bis man das Baumhaus erreichte.
Es war eine beeindruckende Leistung. Die Trägerkonstruktion sah etwas wüst aus, aber nach ein paar Versuchsschritten fühlte ich mich dann auch dort sicher und erkundete die Hütte.
Alles wurde aus per Hand spaltenem Zedernholz gebaut. Die Wände, das Dach, die Ziegel – alles aus Brettern, die selbst hergestellt wurden, ohne elektrische Werkzeuge. Es gab sogar eine kleine Bank mit einem Tisch und ein Regal. Unter dem Dach hing an zwei Balken eine Hängematte, gebaut aus blauen Fischernetzresten. Von der Geländerlosen Plattform des Baumhauses schaute ich in des große Netz und den 18m darunter liegenden Waldboden.
“Lass dich einfach reinfallen!”, befahl mir meine Abenteuerlust. Aber die Zweifel waren dann doch zu groß. Ich musste das ganze erst noch mal in Ruhe inspizieren. Allerdings wurde es spät und ich ging wieder zurück zu den Mädels.

Wir schliefen die erste Nacht im schon aufgebauten Camp und gingen am nächsten Tag in den Ort Ucluelet, um noch etwas zu Essen für die nächsten Tage zu kaufen und dann ins Baumhaus umzuziehen.
“Willst du nicht villeicht dein Zelt abbauen? Es könnte doch jemand klauen.”, fragte Susi mich bevor wir zum Shopping aufbrachen.
“Ach Quatsch, hier kommt doch sowieso keiner her. Das ist so eine versteckte Stelle.”, erwiderte ich gutgläubig.
Auf dem Rückweg sagte ich dann mit scherzendem Ausdruck:”Wäre doch lustig wenn wirklich jemand jetzt alles geklaut oder ein Bär alles verwüstet hätte.”
Drei Minuten später bogen wir um die letzte Ecke und ich sah eine der Zeltstangen hoch in die Luft staksen.
“Neiiiiiiiin” schrie es innerlich in mir auf.
Wenn das Zelt ordnungsgemäß aufgebaut ist, und das war es, dann sieht man keine Zeltstangen, da sie ja vom Überzelt verdeckt werden. Im Prinzip wusste ich sofort was geschehen war. Panisch rannte ich zu meinem Zelt oder das, was davon übrig war. Alles war vollkommen zerfetzt. Überall lagen zerbrochene Alustangen und Stücke von Zeltgewebe herum. Als ich durch eine der nun vielen Öffnungen das Innere aus dem Zelt heraus holte, kam meine aufgeschlitzte Isomatte zum Vorschein. Nochaml zog sich alles in mir zusammen. Meine gute Isomatte, mein Bett – das heiligste aller Utensilien. Glücklicherweise war mein Schlafsack und der Rest noch ganz. Das bewahrte mich aber nicht davor in einem kleinen Wutenanfall auszubrechen, in dem ich viele wilde Schimpfwörter um mich warf. Susi und Laura standen nur mit mitleidigen Geischtern neben mir und fühlten meinen Schmerz über den Verlust, der schon beträchtlich war, wenn man bedenkt, dass mir das Haus und das Bett zerstört wurde. Doch wie schon so oft auf meiner Reise machte ich mir wieder einmal klar, dass Wut und Ärger nichts an der bestehenden Sitaution besserte, ganz im Gegenteil, man sich nur weiter reinsteigert. Nach einer Minute der Rage konnte ich wieder lachen und fing an meine restlichen noch verbliebenen Sachen in den Rucksack zu stopfen. Susi und Laura taten das gleiche und verschwanden dann durch die Büsche zum Strand, wo wir unser Essen lagerten, um auch dieses in die Rucksäcke zu packen. Leider hat diese Vorsichtsmaßnahme, Essen immer weit weg von wichtige Dingen wie Ausrüstung, Freunden oder dem eigenen Körper aufzubewaren, wenn man in Bärenland ist, diesmal nicht wirklich was genutzt. Alles was den Bären anscheinend interessiert hat, war mich zu ärgern und mir das Schlafgemacht zu verwüsten.
Nach einer halben Stunde war alles noch brauchbare im Rucksack verstaut. Ich zog die Schnüre zu, lehnte ihn an eine Wurzel und blickte hoch. Und da stand er plötzlich, der verdammte Bär, zwanzig Meter vor mir und ich blickte ihm in die Augen.

Wie schon beim Aufwachen in meinem Van im Yukon wurde sofort die Atmung schnell und flach. Ich spürte wie mir schlagartig die Angst in die Knochen kroch und mit ihr das Schlottern in die Knie.
In der ersten Sekunde dachte ich noch:”Fuck, was soll ich machen, wo soll ich hin.” und in der zweiten hing ich schon am Ast des neben mir stehenden Baumes, zog mich zum zweiten Ast hoch, schwang mich auf den dritten und behielt dabei immer den Bären im Auge, der einfach nur dastand und mir hinterher schaute, wie ich da rumturnte.
Als ich mich in relativ sicherer Höhe wähnte und einen guten Stand hatte, kam der zweite Gedanke:”Scheiße Felix, was haste denn jetzt gemacht. Das is doch ein Schwarzbär. Wenn der will, kommt der einfach zu mir hoch und pflückt mich wie nen reifen Apfel.”
Die Empfehlungen zu Verhaltensweisen bei Grizzlys und Schwarzbären wurden bei der Fluchtattacke einfach irendwo an die Seite gestellt.
Ich fing an ihn aufs wildeste anzuschreien und zu beleidigen, doch er schaute nur abwechselnd in einer provozierenden Gelassenheit mich und meine Zeltreste an. Nach einer Weile hatte er wahrscheinlich von meinem Gekreische genug und trotte ab durchs Gebüsch in Richtung Strand. Ich kletterte wieder runter, folgte ihm und fing an die Mädchen zu rufen.
“Mädels, der Bär ist da, der Bär ist da.”
“Was sollen wir machen?”
“Ihr müsst … ihr solltet … geht einfach – ich weiß doch auch nicht. Geht irgend wo hin.”
Was besseres ist mir nicht eingefallen. Die Mädels standen auf einer kleinen Fels-Halbinsel und zwischen uns der Bär, der dann aber doch endlich ganz langsam weglief.
Nachdem ich uns drei Speere geschnitzt hatte, machten wir uns auf den Weg zum Baumhaus, unglücklicherweise den selben Weg des Bären. Doch wieder gesehen haben wir ihn nicht mehr.

Nach zwei Nächten im Baumhaus machten sich Laura und Susi wieder auf den Weg nach Vancouver und ich blieb noch drei weitere Nächte. Jedoch hielt ich es länger auch nicht aus. Mit jeder Nacht wurde der Wald gruseliger und bedrückender. Am Ende dachte ich, dass ich verrückt werden würde, wäre ich noch länger geblieben. Ich weiß nicht genau was es gewesen war, doch irgendwas an diesem Wald hat mir nicht gut getan. Also verschwand ich.

Die letzten drei Wochen in Kanada verbrachte ich mit Becky und Jenny, die von Portland nach Vancouver Island kamen. Ich begrüßte sie mit einer Schnipseljagd in Victoria und dann verschwanden wir in die Natur, wo ich ihnen die kleinen geheimen Plätze zeigte, die ich in den letzten anderthalb Jahren entdeckte.

Zusammen fuhren wir zurück nach Portland, wo ich die letzten Züge meines fast zwei jährigem Nordamerikaaufenthaltes mit Becky in vollen Zügen auskostete.
Und das wars dann. Unter Tränen verabschiedeten wir uns und ich stieg in den Zug zurück nach Vancouver, wo mein Flug drei Tage später nach Deutschland ging. An der Grenze hatte ich ein paar Probleme ins Land zu kommen, da sich die Grenzbeamte aufregte, dass ich vier mal zwischen den USA und Kanada hin und her hüpfte und das ja nicht so gedacht war. DAber als ich ihr eine Kopie meines Flugtickets zeigte, stellte sie mir dann doch ein spezielles 3-Tages-Visum aus und ließ mich ins gelobte Land. Ich holte meine getrockneten Morcheln ab, packte meinen Kram zusammen, verabschiedete einige Freunde und dann flog ich davon, mit einem etwas mulmigen Gefühl einem hoffentlich nicht fremd gewordenen Land entgegen.

Noch nie war ich so lange aus Deutschland raus. Wie würde ich mit der Mentalität klar kommen? Würde ich mit meiner Familie und meinen Freunden klar kommen? Was würden die nächsten Stationen meines Lebens werden? Wo sollte ich leben, was sollte ich tun, was war mit Becky?
Es war klar, dass ich erst mal in Deutschland bleiben wollte. Ich wurde müde immer überall Gast zu sein, nicht mein eigenes kleines Heim zu haben. Ich dachte, es würde Zeit sich nieder zu lassen, zumindest so lange, bis es mich wieder rauszieht. Und ich weiß das wird es, das tut es ja jetzt schon.
Es gibt so viel Unsicherheiten und auch Ängste. Im Prinzip weiß ich was ich will und was ich nicht will. Doch die Umsetzung der Dinge wird eine sehr große Herausforderung. Da erscheint plötzlich jeder Berg und jeder Bär wie ein Klacks.

Als ich in Düsseldorf landete, war ich merkwürdig ruhig. Es gab keine Anspannung, alles war ok. Schon auf der Zugfahrt hatte ich das Gefühl nie weg gewesen zu sein. Klar, mir sind Veränderungen im Land aufgefallen: überall stehen Solaranlagen und Windräder, überall in Deutschland stehen Häuser und Dörfer, alles ist sehr sehr eng im Vergleich zu Kanada, doch daran gewöhnt man sich in ein paar Stunden. Selbst in Erfurt, beim Wiedersehen wichtiger Menschen und Orte, war alles erstaunlich nüchtern und normal. Der große Heimatschock von dem immer viele berichten blieb völlig aus und so machte ich mich gleich daran meine Ideen zu verwirklichen. Ich erkundigte mich nach Ländereien, Häusern, reiste durchs Land, um Freunde zu besuchen, meiner Schwester beim Umzug zu helfen und kam gerade wieder von einer Arbeitswoche im Ökodorf Sieben Linden, das mir einen gewaltigen Motivationsschub gegeben hat und viel Inspiration hinterlassen hat.

Es bleibt spannend.

Zum Blog:

Ich werde die nächsten Monate in Deutschland bleiben, bis Becky Ende Dezember nach Berlin kommt. In dieser Zeit wird wenig oder gar nichts zu erscheinen. Vielleicht reichts ja auch mittlerweile für ein Buch. :=)